Bindungsstile

Für die Entwicklung eines Säuglings ist die Bindung zu seinen Bezugspersonen enorm wichtig - nicht nur zum Überleben, weil er selbst sich noch nicht versorgen kann. In den ersten Lebensmonaten wird ebenfalls der Grundstein für die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit eines Menschen gelegt. Das Sicherheitsgefühl in die Welt, die Möglichkeiten der freien Entfaltung und die Vertrauensfähigkeit in sich selbst und in soziale Beziehungen werden hier erlernt und aufgebaut. Je nachdem, wie die Eltern auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren und was es dadurch lernt, wird es später als erwachsener Mensch selbst lieben - in Paarbeziehungen, aber auch in eigenen Eltern - Kind - Beziehungen.

Bereits ab dem Jahr 1969 beschäftigte sich John Bowlby mit dem Thema und entwarf die Bindungstheorie, die bis zum heutigen Zeitpunkt zitiert wird. Marie Ainsworth untermauerte diese mit ihren Experimenten zum sog. "Fremde Situation-Test" in den Jahren ab 1978.
Bei ihren Experimenten mit Kindern im Alter zwischen 12 und 18 Monaten sah das Testszenario folgendermaßen aus: Mutter und Kind wurden in einen Raum mit Spielzeug geführt. Die Mutter las ein Buch, während das Kind begann, sich dem Spielzeug zuzuwenden. Eine fremde Frau betrat den Raum und nahm Kontakt zum Kind auf. Dann kam es zu einer Trennung, als die Mutter kurz den Raum verließ und nach kurzer Zeit zurück kam. Es erfolgte eine zweite Trennung, die fremde Frau blieb beim Kind, bis die Mutter wiederkam. Die Kinder reagierten im Experiment sehr unterschiedlich auf die für sie ungewohnte Situation.

Daraus leitete Ainsworth vier verschiedene Bindungstypen bei Kleinkindern ab:

Sichere Bindung: Kinder, die sich auf das Verhalten ihrer Bezugspersonen verlassen können, also wissen, dass und wie diese reagieren und dass ihre eigenen Bedürfnisse erkannt werden - etwa, wenn sie regelmäßig getröstet werden, wenn sie weinen etc. - bauen eine sichere Bindung auf und haben mehr Vertrauen in sich und die Welt. Solche Personen können im späteren Leben ihre Gefühle offen zeigen und sind eher in der Lage, gesunde zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. Ihr Sozialverhalten ist gewöhnlich gesünder, sie sind ausgeglichener, aufmerksamer und haben ein besseres Selbstwertgefühl als andere.

Unsicher vermeidende Bindung: Kinder, die Angst haben, dass ihre Bezugsperson sie verlassen könnte, zeigen das oft, indem sie so tun, als hätten sie keine Angst. Sie vermeiden den zwischenmenschlichen Kontakt und konzentrieren sich ganz fest auf etwas Anderes. Kinder, die dieses Verhalten ausprägen, lernen sozusagen, dass sie nichts zu erwarten haben und scheuen zwischenmenschliche Beziehungen. Auch das Selbstvertrauen leidet darunter.

Unsicher ambivalente Bindung: Diese Kinder haben ebenfalls Angst, dass ihre Bezugsperson nicht für sie da ist, zeigen das aber anders. Sie melden sich sehr deutlich, sind anhänglich und bestehen darauf, dass man bei ihnen bleibt. Zugleich sind sie wütend und traurig und stoßen ihre Bezugsperson weg. Auch hier leidet das Selbstvertrauen. Personen mit einer solchen Bindungserfahrung nehmen die Welt als bedrohlich war. Sie neigen zu aggressivem Verhalten, Hilflosigkeit und Angst.

Desorganisierte Bindung: Kinder, deren Bindungsverhalten grundlegend gestört ist, zeigen das auch, indem sie sich seltsam verhalten. Der extreme Stress, den das auslöst, kommt so an die Oberfläche. Sie sind apathisch, schaukeln hin und her oder sind wie erstarrt. Eine normale Entwicklung ist hier kaum möglich.

Spätestens in diesem Bindungstypus zeigt sich, wie wesentlich Bindung für den Menschen allgemein ist - ohne geht es eben nicht.

Zusammengefasst lässt sich sagen: In Belastungssituationen zeigen Kinder ein höheres Bindungsverhalten (z.B. „Fremdeln“) und ein geringes Explorationsverhalten. Fühlt ein Kind sich in seiner Umgebung sicher und wohl, kann es sich eher von seinen Bezugspersonen lösen und zeigt ein hohes Explorationsverhalten. Die Aufgabe der Eltern ist es, je nach Situation dem Kind die Sicherheit oder Freiheit zu geben, die es gerade braucht, damit es für das spätere Leben einen sicheren Bindungsstil aufbauen kann.


Doch wie wirkt sich unser angelernter Bindungsstil auf unser Erwachsenenleben aus?

Immer, wenn zwei oder mehr Menschen zu einer engeren Beziehung zusammen kommen, kommen automatisch auch mehrere verschiedene Bindungsstile zusammen. Das kann zu Problemen führen, wenn es um die Themen Nähe und Freiheitsliebe, Vertrauen oder alltägliches Miteinander geht.

Hazan und Shaver beschäftigten sich ab dem Jahr 1987 mit den Bindungstypen von Erwachsenen – und fanden drei verschiedene Bindungsstile im Erwachsenenalter:

Sicherer Bindungsstil: Sicher gebundene Menschen finden es leicht, Nähe zu anderen Personen aufzubauen und diese auch auszuhalten. Sie befinden sich häufig in einer stabilen, langjährigen Partnerschaft und diese Partnerschaft wird von ihnen als emotional unterstützend empfunden. Etwa 55% aller Menschen lassen sich diesem Bindungsstil zuordnen.Diese Menschen haben ein positives Selbstbild sowie ein positives Bild von anderen Personen. Auch die eigenen Eltern werden von sicher gebundenen Menschen als warm und positiv wahrgenommen. Sie gehen mit der Einstellung durchs Leben, dass die Welt ihnen nichts Böses will und haben selten Zweifel daran, dass sie selbst auch gut genug sind. Diese Einstellung führt auch dazu, dass ihnen bessere soziale Fähigkeiten zugeschrieben werden. Außerdem sind sie durch einen hohen Selbstwert und viel Offenheit für neue Erfahrungen gekennzeichnet. Sicher gebundene Menschen glauben außerdem daran, dass sie selbst die Dinge kontrollieren können nicht von außen gesteuert sind.

Vermeidender Bindungsstil: Vermeidend gebundene Menschen fühlen sich unwohl, wenn sie anderen Personen nahe sind und können anderen auch nur schwer vertrauen. Sie vermeiden Intimität und damit auch tiefergehende soziale Beziehungen. Die eigene Unabhängigkeit wird betont und in der Regel empfinden sie auch keine große emotionale Abhängigkeit vom Partner. Schätzungsweise 25% aller Menschen gelten als vermeidend gebunden. Sie haben ein positives Bild von sich selbst, aber ein negatives Bild von anderen Menschen. Von den eigenen Eltern haben sie eher ein kühles, ablehnendes Bild vor Augen. Die negative Sicht auf anderen Menschen ist auch der Grund, warum sie insgesamt eher misstrauisch durchs Lebens gehen und sich nur schlecht auf andere einlassen können. Vermeidend gebundene Menschen haben einen geringen Selbstwert und glauben oft, dass ihr Leben und die Ereignisse, die ihnen widerfahren, nicht von ihnen selbst, sondern vom Glück/Zufall oder von machtvollen Anderen abhängen. Außerdem zeigen sie häufiger Verhaltensweisen, die mit Neurotizismus, also einer gewissen emotionalen Labilität in Verbindung stehen (z.B. Nervosität, Reizbarkeit, Unsicherheit, dauerhafte Unzufriedenheit).

Ängstlicher Bindungsstil: Ängstlich gebundene Menschen sorgen sich eher, dass andere sich nicht für sie interessieren bzw. dass sie von anderen nicht (genug) geliebt werden. Bei Zurückweisung durch den Partner werden die Bemühungen, also die Investitionen in die Beziehung, oft noch verstärkt. Häufig werden sie in Partnerschaften von Außenstehenden als anhänglich wahrgenommen. Etwa 20% aller Menschen sind ängstlich gebunden. Sie haben ein negatives Selbstbild sowie ein positives Bild von Anderen verinnerlicht. In Bezug auf die eigenen Eltern haben sie eher ein gemischtes Bild vor Augen, d.h. sie sehen die Eltern sowohl in einem positiven als auch einem negativen Licht. Die Ausprägungen des Selbst- und Fremdbilds von ängstlich gebundenen Menschen führen dazu, dass sie andere Menschen eher idealisieren und gleichzeitig sich selbst als unzureichend wahrnehmen. Auch ängstlich gebundene Menschen haben einen geringen Selbstwert und denken, dass Lebensereignisse eher von externalen als von internalen Faktoren, also den eigenen Bemühungen, abhängen. Neben einer größeren emotionalen Labilität zeigt sich bei ihnen auch ein häufigeres Auftreten von Depressionen.

Neuere Studien gehen von einem zweidimensionalen Bindungskonstrukt aus. Dabei sind Vermeidung und Ängstlichkeit die beiden Dimensionen, die entweder gering oder stark ausgeprägt sein können. Durch die Kombination der Ausprägungen ergeben sich die gleichen Bindungsstile wie oben genannt, aber es kommt noch ein Bindungsstil hinzu, der durch viel Vermeidung und viel Ängstlichkeit geprägt ist.

Bei Menschen im höheren Erwachsenenalter geht man sogar davon aus, dass Bindung nur noch ein eindimensionales Konstrukt ist. Die ängstliche Komponente geht im Laufe des Lebens immer weiter zurück, sodass irgendwann nur noch zwischen sicher gebundenen und vermeidend gebundenen Menschen unterschieden werden kann.


Gut für eine Beziehung ist es, wenn die beteiligten Partner*innen einen ähnlichen/zueinander passenden Bindungsstil haben, oder zumindest vom Bindungsstil des/der anderen wissen, um so besser damit umgehen und sich ggf. gegenseitig unterstützen zu können. Aber auch eine Änderung des Bindungsstils ist möglich, mit einiger Selbstreflexion und Arbeit an sich selbst. Dadurch können das Selbst- und Fremdbild und die eigenen Beziehungen positiv beeinflusst und viel Selbstsicherheit gewonnen werden - was widerum den Beziehungen zugute kommt.


Das Internet bietet verschiedene Tests dazu an, welcher Beziehungstyp man ist. Es handelt sich zudem um ein gut erforschtes Themengebiet innerhlab der Psychologie, so dass sich viel Literatur dazu findet. Auch psychologische Beratungseinrichtungen oder Psychotherapeut*innen beschäftigen sich mit diesen Themen und können ihre Klient*innen in der Entwicklung eines neues Bindungsstils und somit zufriedeneren Lebens unterstützen.